Der Wolf im Schafspelz
Die 1100er-Bikes von Kawasaki sind aufgepeppt worden. Rund 100 Kubikzentimeter mehr Hubraum gegenüber dem Vormodell bedeuten natürlich etwas mehr Leistung. Das ist aber noch längst nicht alles. Die Ingenieure in Japan haben sich einiges einfallen lassen, um die sportlichen Vierzylinder zu verbessern: Da wurde an Getriebe und Kupplung, an Rahmen und Reifen gefeilt.
Auf Testfahrten mit der 1200er-Kawasaki haben wir den großen sportlichen Vierzylinder mit der Halbschalen-Verkleidung getestet; der volle Name lautet ZRX 1200 S. Im Reigen der Konkurrenzmodelle – Honda X-11, Suzuki GSF 1200 S Bandit und seit allerneuestem zusätzlich GSX 1400 sowie Yamaha FZS 1000 Fazer – gehört die Kawasaki zur eher traditionellen und nicht gerade superleichten Gruppe. Was also ist dran an der neuen Kawasaki ZRX 1200 S?
Das Triebwerk der ZRX 1200 S wurde nicht nur von 1052 auf 1164 Kubikzentimeter vergrößert. Die neuen Aluminiumzylinder benötigen auch ein breiteres Gehäuse. Das heißt, dass auch Kurbelwelle, Zylinderkopf und Ventilabdeckung modifiziert werden mussten. Dabei wurden die Stahllaufbuchsen der Zylinder durch um etwa ein Kilogramm leichtere Aluminium-Zylinderlaufbuchsen ersetzt und Ölrücklaufbohrungen zwischen den Zylindern angebracht. Die neuen Ventilsteuerzeiten sollen sowohl Leistung als auch Drehmoment im gesamten Drehzahlbereich erhöhen.
Dies hat sich bei unserer Testfahrt bestätigt. Von Anfang an leistungsstark, dreht die Kawasaki ab 3000 Kurbelwellenumdrehungen kraftvoll bis 8500 hoch – dann setzt noch einmal ein Extra-Schub ein, der unaufmerksame Beifahrer im Wortsinne vom Hocker reißt. Dabei läuft der Motor ruhig und sparsam; bei gleitender, aber keineswegs bummeliger Fahrweise kamen wir mit durchschnittlich 5,3 Litern auf 100 Kilometer aus. Der 19-Liter-Tank ermöglicht eine Reichweite von rund 350 Kilometern, von denen beinahe 100 Kilometer mit den etwa 5 Litern Reserve-Sprit zurückgelegt werden können.
Die Kraftübertragung erfolgt über O-Ring-Kette und Ritzel auf das Hinterrad. Dies ist zwar nicht besonders wartungsfreundlich, da die ZRX 1200 S keinen Hauptständer besitzt, aber durchaus effizient: Lastwechselreaktionen konnten wir nicht feststellen.
Das Fünfgang-Getriebe wurde enger abgestuft und damit die Notwendigkeit von Gangwechseln reduziert. Neue Doppelkegel-Scheibenfedern im Kupplungsgehäuse sollen das Schalten erleichtern. Die Schaltwege sind für ein sportliches Motorrad eher lang, die Gänge lassen sich aber präzise und recht leichtgängig einlegen.
Das Leergewicht von 250 Kilogramm merkt der Fahrer im Grunde nicht. Das Handling der 1200er-Kawasaki ist durch und durch erfreulich: der Rahmen ist steif und die Federung gut abgestimmt. Damit lassen sich Kurven spurstabil durchfahren und das Umlenken von einer Schräglage in die andere ist leicht. Fahrbahnunebenheiten werden auch bei sportlich straffer Abstimmung der vollständig justierbaren Federbeine und Gabel größtenteils absorbiert. Die gegenüber dem Vormodell größer dimensionierte und versteifte Aluminiumschwinge sorgt dafür, dass es praktisch keine Fahrwerksunruhen mehr gibt.
Das Hinterrad wurde im Vergleich zur 1100er verbreitert, die neuen Maße 180/55 ZR 17 bringen auf der größeren Lauffläche die Kräfte des leistungsstärkeren Triebwerks besser auf die Straße – für einen Burn-out reicht's aber bei Bedarf immer noch ...
Am Vorderrad beißen zwei Tokico-Sechskolbenbremszangen in jeweils eine 310 mm große Edelstahl-Bremsscheibe, hinten wird über das Fußbremspedal auf einer 250 mm Scheibe verzögert. Die Bedienkräfte sind zwar nicht besonders groß, der Druckpunkt der vorderen Bremse ist aber etwas schwammig geraten.
Die ZRX 1200 S ist – das „S“ im Namen soll's andeuten – sportlich konzipiert und dennoch alltagstauglich. Eine bequeme Sitzposition erleichtert nicht nur Langstreckenfahrten, sondern ist insbesondere auch im Stop-and-Go verstopfter Innenstädte ein echter Vorteil gegenüber vielen anderen Sport-Bikes. Fahrer mit kurzen Beinen werden die niedrige Sitzhöhe von 790 mm erfreut registrieren.
Die Instrumente wirken eher klassisch und sind gut ablesbar; die Lenkerarmaturen sind praxisorientiert und bedienungsfreundlich. Die Tankanzeige mit neuem Kraftstoffvorratsanzeigesensor arbeitet präzise. Zusätzlich gibt der Benzinhahn mit separater Reservestellung Sicherheit. Nur das Windschild kann weder durch sein Design noch durch Funktionalität wirklich beeindrucken: es erinnert eher an ein Teil aus dem Zubehörhandel. Zwar entstehen keinerlei störende Verwirbelungen, aber ab Tempo 160 wird es ziemlich windig. Als Fahrer duckt man sich bald möglichst nahe an den Tank.
„Was nichts kostet ist nichts wert,“ sagt eine alte Volksweisheit. Die Kawasaki ZRX 1200 S kostet 18 220 Mark – und bietet dafür eine ganze Menge. Mit dem preisgünstigsten Wettbewerbsmodell, der Suzuki Bandit, kann sie zwar nicht ganz mithalten, aber insgesamt darf man der Kawasaki ein ordentliches Preis-Leistungs-Verhältnis bescheinigen.
Sportlich, bequem, agil und alltagstauglich – das sind die Hauptmerkmale der stark überarbeiteten, in vielen Details sogar gänzlich neuen Kawasaki ZRX 1200 S. Das Design ist, wie stets, Geschmacksache, der durchzugstarke Motor sorgt aber in jedem Fall für eine Menge Fahrfreude. Kurvenspaß ist dank des zuverlässigen und handlichen Fahrwerks ebenfalls sichergestellt. Dass lange Strecken oder langwierige Stadtfahrten auch noch bequem bewältigt werden, ist sicherlich ein Pluspunkt für viele, die nicht nur sportlich hetzen, sondern ganz einfach souverän unterwegs sein wollen.
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