Die Harley-Revolution
Ein vollkommen neues Motorradmodell hat Harley-Davidson zuletzt 1951 vorgestellt; damals erblickte das intern K1 genannte Bike das Licht der Welt. Exakt 50 Jahre später präsentiert das Traditionsunternehmen - die US-Zweiradfirma feiert im Jahr 2003 immerhin ihr 100-jähriges Bestehen - wiederum ein gänzlich neues Modell als Plattform einer selbstständigen Baureihe: In Los Angeles wurde jetzt Pressevertretern und Händlern als erster Typ der neuen Baureihe VRSC die V-ROD gezeigt.
Die erste Harley mit einer Literleistung von rund 100 PS und einem wassergekühlten V2-Motor mit 60-Grad-Zylinderwinkel stellt vor allem technisch eine Revolution dar; bislang wiesen Harleys stets luftgekühlte, langhubig ausgelegte Motoren mit geringen Literleistungen auf. Hinter dem neuen Triebwerk steckt denn auch kein Geringerer als die schwäbische Sportwagenschmiede Porsche, auf deren Know-how der Motor maßgeblich beruht. Wie fährt sich das neue Modell, das im späten Herbst 2001 zu den Händlern kommen wird und exakt 20 068 Euro (oder 39 249,60 Mark) kostet?
Werden die 1449 Kubikzentimeter großen Twin-Cam-Motoren von Harley-Davidson mit dem Namen „Evolution“ bezeichnet, so trägt der Motor der V-ROD die durchaus treffende Bezeichnung „Revolution“. Das Triebwerk hat mit dem der anderen Harley-Modellreihen abgesehen vom Viertakt-Prinzip und dem Zahnriemenantrieb keinerlei Gemeinsamkeiten. Harley-Davidson wollte bei dem neuen Bike ganz bewusst auch auf dem Triebwerkssektor andere Wege gehen: Nicht nur eine hohe spezifische Leistung war gefragt, sondern auch eine Nennleistung jenseits der 100 PS.
Ausgangspunkt war die Entwicklung des Superbike-Rennmotors vom Typ VR 1000 Anfang der 90er-Jahre. Zur grundlegenden Überarbeitung für den Einsatz in einem Großserienmotorrad hielten die Harley-Manager prominente Unterstützung für hilfreich: Porsche bekam 1996 das Rennaggregat samt dem Auftrag, das Triebwerk straßentauglich zu machen. Damit waren der für Harley ungewöhnliche 60-Grad-Zylinderwinkel, die kurzhubige Auslegung und die Wasserkühlung vorgegeben; üblich waren bei den US-Bikes bislang 45-Grad-Zylinderwinkel, langer Zylinderhub und Luftkühlung. Die in Weissach bei Stuttgart arbeitenden schwäbischen Tüftler machten ihre Sache in enger Kooperation mit dem „Harley-Davidson Powertrain Engineering Team“ perfekt: Sie beschränkten den Hubraum auf 1130 Kubikzentimeter, realisierten dabei aber die stolze Leistung von rund 115 PS (die Homologation ist nicht abgeschlossen, weshalb noch keine exakten Daten vorliegen). „Die Drehmomentkurve verläuft extrem flach, das Maximum darf man mit etwas über 100 Newtonmeter erwarten“, lächelt Entwicklungs-Chef Earl Werner stolz.
In der Praxis - wir fuhren in gebirgigem Gebiet in Süd-Kalifornien rund 300 Kilometer - schnurrt das Triebwerk, dass es nur so eine Wonne ist: Schon bei knapp 2000 Umdrehungen geht es tüchtig vorwärts, und erst bei über 9000 Touren setzt der elektronische Drehzahlbegrenzer dem fröhlichen Treiben ein Ende. Leistung satt steht zur Verfügung, und zwar in jedem Drehzahlbereich. Sie kommt zudem äußerst kultiviert; Vibrationen, Lastwechselreaktionen oder Konstantfahrtruckeln sind dem Zweizylindermotor fremd. Der Aufwand ist allerdings auch beträchtlich: So kommen sowohl eine geschmiedete Kurbelwelle wie auch geschmiedete Kolben zum Einsatz; in den Zylinderköpfen sorgen jeweils vier Ventile und zwei Nockenwellen für schnellen Gasdurchsatz. Die zentralen Innereien des Motors wie Kurbelwelle, Kolben und Pleuel sowie das Fünfganggetriebe werden von deutschen Herstellern zugeliefert; offenbar sind High-Tech-Produkte dieser Art in Amerika nicht erhältlich.
Zur Ausrüstung mit G-Kat hat es beim ersten Modell der neuen Baureihe leider noch nicht gereicht; europäische Käufer müssen sich mit einem ungeregelten Kat begnügen, der aber allen absehbaren Abgasnormen genügen soll. Trotz Erfüllung sämtlicher Geräuschvorschriften ist, ebenfalls mit Hilfe von Porsche, ein stattlicher, aber nie störender Sound komponiert worden - auch auf diesem Sektor schlägt die Neue die traditionellen Harleys, zumindest die in Serien-Ausführung.
Das Fünfganggetriebe der Vorserienfahrzeuge ließ sich anstandslos betätigen; die Schaltwege sind kurz, die Gänge rasten sicher ein. Der für Harley mittlerweile traditionelle Zahnriemenantrieb bewährt sich auch bei den hohen Leistungen der V-ROD ausgezeichnet.
Wie weit die Zusammenarbeit der beiden renommierten Hersteller Harley-Davidson und Porsche geht, zeigt die Tatsache, dass das Triebwerk der V-ROD in einem Joint-Venture-Projekt in Kansas City gebaut wird; Harley-Davidson hält daran 51 Prozent der Stimmrechte, Porsche 49 Prozent. Grundlage des Gemeinschafts-unternehmens ist die seit Beginn der 70er-Jahre andauernde Zusammenarbeit beider Firmen; unter anderem hat Porsche das Know-how für den Bau der neuen Fabrik in Kansas City eingebracht. Auch die Triebwerke der anderen Harley-Baureihen wurden schon mit Porsches Hilfe sowohl unter Leistungs- wie unter Sound- und Emissionsgesichtspunkten optimiert.
Klar war, dass als erstes Modell der neuen Baureihe ein Custombike entstehen musste, wie es für Harley-Davidson charakteristisch ist. „Long and low“, also lang und niedrig, sollte die V-ROD werden. Das ist sie auch: Der Radstand von 1713 Millimetern ist rekordverdächtig, die Sitzhöhe von rund 700 Millimetern und der sehr flache Lenkkopfwinkel von 34 Grad sorgen für eine gestreckte Linie. Entsprechend weit vorne mussten die Fußrasten montiert werden; die Sitzposition darf dabei - im Rahmen des bei Custombikes Möglichen - durchaus als bequem bezeichnet werden.
Der Rahmen besteht aus Stahl und besitzt erstmals bei Harley geschraubte Unterzüge; seine Form erhält er durch ein spezielles Hydroforming-Verfahren (Innenhochdruckumformung). Fünf Jahre dauerte die Arbeit des Teams um Willie G. Davidson und Louis Netz an Konzept und Design des neuen Bikes.
Doch nicht nur optisch setzt die V-ROD Zeichen, auch technisch ging Harley in die Vollen: Die Gabel ist mit 49 Millimetern Standrohrdurchmesser sehr massiv ausgefallen, die Bremsanlage weist vorne zwei schwimmend gelagerte Scheiben mit Vierkolbensätteln und Stahlflex-Bremsleitungen auf; Wirkung und Dosierbarkeit sind denn auch untadelig. Zum Einbau eines ABS mochten sich die Amerikaner freilich noch nicht durchringen: „Ein ABS muss unter allen Bedingungen, also auch bei Kurvenfahrt, besser bremsen als ein herkömmliches System“, formulierte Präsident Jeff Bleustein das Credo der US-Firma. Bill Davidson, für das Marketing verantwortlicher Ur-Enkel des Gründers, schwächte Bleusteins Abwehrhaltung später ein wenig ab: „Wir verfolgen die Entwicklung sehr aufmerksam und sehen schon, dass im Panikfall ein ABS sehr hilfreich sein kann“. Man darf gespannt sein, wann die Amerikaner hier endlich Nägel mit Köpfen machen; möglicherweise wird die Touren-Ausführung der neuen Baureihe als erste Harley ein ABS besitzen.
Die Fahreigenschaften der V-ROD sind für ein so langes und schweres Fahrzeug bemerkenswert: Weil der Schwerpunkt niedrig liegt und der Lenker relativ breit ausgefallen ist, fällt das Einlenken in Kurven leicht. Etwas störrisch gibt sich die neue Harley nur dann, wenn in Schräglage der Kurvenradius geändert werden soll. Die Schräglagenfreiheit geht für ein Custombike absolut in Ordnung, so dass auf Land- und Bergstraßen durchaus flotte Fahrt ermöglicht wird.
Auch die Geradeauslauf-Stabilität konnte bei den ersten Probefahrten vollkommen überzeugen, wobei wir die Höchstgeschwindigkeit nicht ausloten konnten. Insgesamt erscheint uns die V-ROD als das fahraktivste Motorrad der Cruiser- und Chopper-Sparte; auch BMWs R 1200 C oder Hondas neue VTX können ihr auf diesem Sektor nichts vormachen. Die Fahrwerksabstimmung ist insgesamt hart, aber nicht unkomfortabel: Aus 100 mm Federweg vorne und 60 mm hinten haben die Harley-Techniker jedenfalls das denkbar Beste gemacht.
Signifikantes Gestaltungsmerkmal ist die reichliche Verwendung von Aluminium: So besteht die hintere Schwinge aus poliertem Aluguss, Seitenverkleidungen, Airbox-Abdeckung , Kotflügel und vieles mehr glänzen in eloxiertem Aluminium. Der 15-Liter-Tank wurde unter dem Sitz angeordnet, so dass erst einmal überhaupt nicht erkennbar ist, wo die V-ROD ihren Sprit bunkert. Das, was bei Motorrädern üblicherweise der Tank ist, dient hier nur als durchaus sehenswerte Abdeckung des Luftfilters. Ungewöhnlich sind auch die Scheibenräder aus eloxiertem Alu. Ebenfalls als absoluten Hingucker darf man die Kombination aus Instrumententräger und Scheinwerfer bezeichnen: Diese Linie sucht weltweit ihresgleichen.
Insgesamt ist das Handling der V-ROD unproblematisch: Die Sitzposition passt für Personen zwischen ca. 1,60 bis 1,90 Meter Körpergröße, die Spiegel bieten genügend Rücksicht, die Bedienungshebel sind funktionell. Ein spezielles Lob gebührt dem selbstrückstellenden Blinker; der Chip ist so perfekt programmiert, dass er wirklich dann den Blink-Rhythmus beendet, wenn das Abbiegemanöver auch beendet ist. Integriert ist auch eine Warnblinkanlage. Eine Zeituhr bietet das Cockpit allerdings nicht. Dass der Drehzahlmesser nicht besonders einfach abzulesen ist, spielt in der Praxis keine große Rolle, weil der Motor in sämtlichen Drehzahlregionen reichlich Leistung bietet, ohne dabei irgendwie zu nerven.
In Grundausstattung lädt der Soziusplatz allerdings nicht zu längerem Verweilen ein; immerhin ist ein deutlich größeres Sitzpolster als Zubehör lieferbar.
Seit Anfang September ist es raus: Gut 20 000 Euro (inclusive Mehrwertsteuer) wird die V-ROD in Europa kosten. Damit liegt sie etwa auf dem Niveau einer „Fat Boy“. Die Möglichkeiten zum weiteren Geldausgeben sind nahezu unbegrenzt: Im Katalog der Harley-Abteilung „Parts & Accessoires“ sind 75 Artikel aufgelistet, mit denen V-ROD-Käufer ihr Bike individualisieren können. Das Angebot reicht von zahlreichen Chromteilen über einen funktionalen Soziussitz und einen Gepäckträger bis hin zur Windschutzscheibe. Auch eine neue Bekleidungslinie bringt Harley-Davidson in Zusammenhang mit der V-ROD auf den Markt.
Die neue Harley-Davidson V-ROD ist ein gelungenes Motorrad: Ihr Design ist im Ganzen wie im Detail bestechend, womit sie ein vollkommen eigenständiges Erscheinungsbild besitzt. Die großzügige Verwendung von Aluminium verleiht der V-ROD etwas Edles, was sie angesichts des Preises von 20.068 Euro oder 39 249,60 Mark allerdings auch dringend benötigt. Der in enger Zusammenarbeit mit Porsche entwickelte Zweizylinder-V-Motor mit 1130 Kubikzentimetern Hubraum leistet rund 115 PS und beschleunigt die V-ROD damit in für Harleys bisher unbekannte Geschwindigkeitsregionen. Das Triebwerk bleibt dabei sehr kultiviert und überzeugt in jedem Drehzahlbereich mit reichlich Leistung. Trotz des langen Radstandes lässt sich die V-ROD auch auf kurvigen Bergstrecken leicht und angenehm fahren; die Fahrstabilität ist bei Geradeausfahrt zumindest bis 180 km/h - höheres Tempo war in den USA nicht möglich - wie auch bei Kurvenfahrt einwandfrei, die Federungsqualität entspricht der Fahrzeuggattung. Ein Lob gilt der Bremsanlage wie auch der Sitzposition. Mit der V-ROD hat Harley-Davidson das fahraktivste Motorrad im Segment Cruiser und Chopper auf die Räder gestellt. Angesichts des Preises wird der Anblick einer V-ROD auf mitteleuropäischen Straßen auf absehbare Zeit allerdings eher selten bleiben. Den Käufern kann's recht sein.
Fahrberichte:
MO Heft 08/01
MOTORRAD Heft 22/01
Herzstück der V-ROD: die "Revolution Engine". Nicht nur technisch sondern, auch schön anzuschauen.
Information auf zwei Ebenen. Kilometerstand, Tageskilometer und Wassertemperatur.
Eine Eigenständige Lösung ist der Rahmenausleger der hält den Tank, eine Aluschwinge das Scheibenrad.
Wasserkühler, wo sonst nichts war.
Airbox wo sonst der Tank zu finden war.
Gerade- und schrägverzahnte Gangräder in Kombination sollen Schalt- und Haltbarkeit optimieren.
Klarglas-Scheinwerfer und Instrumenten in der Lenkerkonsole.
Der Auspuff mit dem gewissen Schwung. Das untere Endstück setzt aber auf.
1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12,
|